Wenn Jesus Christus wirklich gelebt hat, dann basiert auch eines der erfolgreichsten Musicals aller Zeiten, Jesus Christ Superstar, auf wahren Begebenheiten. In Anatevka, dem seit Jahrzehnten erfolgreichen Broadway-Musical, geht es nicht nur um Familie und Tradition, sondern auch um ein Pogrom gegen Juden im Jahr 1905 in Polen. Im Londoner West End wird seit 2014 außerdem das Musical Made in Dagenham über den Streik der Maschinennäherinnen des Ford-Werks bei Dagenham im Jahr 1968 aufgeführt. Also, es geht doch.
Unser Vorbild war allerdings Volker Löschs Inszenierung von Fidelio, die 2020 – unmittelbar vor der Pandemie – vom Publikum und von der Kritik hochgelobt wurde. Lösch verband darin jede der 16 Musikstücke von Beethovens einziger Oper auf geniale Weise mit den Themen seiner türkischen und kurdischen Zeitzeugen. Diese standen neben den Schauspieler:innen der Bonner Oper und erzählten ihre wahren Geschichten: Verdrängung, Hoffnung, Kampf, Folter, politisches Engagement und Befreiung. Alle genannten Stücke sind auf ihre Weise hochpolitisch, lehrreich und gleichzeitig ausgesprochen unterhaltsam. Bei der Entstehung dieses Musicals hatte Unterhaltung auch bei uns höchste Priorität, neben dem dringlichen Wunsch, eine Geschichte erzählen zu wollen, die öffentlich kaum bekannt ist.
„Wild“
Als die Ford-Belegschaft in Köln Anfang 2025 streikte, berichteten alle Medien ausnahmslos vom „ersten Streik in der hundertjährigen Geschichte des Ford-Werks in Köln“. Der Streik von zehntausend Gastarbeitern im Jahr 1973, um den es in Baha und die wilden Siebziger geht, wurde hingegen als „wild“ bezeichnet, weshalb er nicht zähle. Eine traurige Bilanz – vor allem für die als weltoffen geltenden Kölner Medien: In der Stadt, in der rund ein Zehntel der Bevölkerung türkeistämmig ist und in jeder Familie mindestens ein Angehöriger bei Ford arbeitet oder gearbeitet hat.
Auch der Streik beim Berliner Lieferdienst Gorillas im Jahr 2021 zur Gründung eines Betriebsrats wurde als „wild“ eingestuft.
Auch der jüngste Streik beim Berliner Lieferdienst Gorillas zur Gründung eines Betriebsrats wurde als „wild“ eingestuft. Im Jahr 2023 erklärte das Arbeitsgericht Berlin die fristlose Kündigung der beteiligten Fahrradkuriere für wirksam. Als Begründung wurde ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts aus dem Jahr 1963 herangezogen, welches sich auf das nationalsozialistische Gesetz zur „Ordnung der nationalen Arbeit“ bezog. Sowohl das Urteil von 1963 als auch das Nazi-Gesetz stammten aus der Feder desselben Richters und Professors: Hans Carl Nipperdey, übrigens aus Köln.
Wir wollten unterhaltsam bleiben. Als Nichtmuttersprachler haben wir das Negative im Wort „wild“ gnadenlos ins Positive umgewandelt. Im Englischen kann „wild“ schließlich auch „crazy“ heißen. Dieses Musical erzählt die Geschichte der Streikenden von Ford und die „verrückten“ Siebziger.
Baha Targün war als öffentliches Gesicht dieses Streiks seinerzeit laut einer Umfrage des Offenbacher Instituts der bekannteste Türke in Deutschland. Heute kennt ihn kaum jemand. Wir konnten mit seinen Freunden und Verwandten sprechen. Außerdem interviewten wir mehrere Ford-Arbeiter, die seinerzeit mit gestreikt haben. Zwei von ihnen, Seyfo Kurt und Peter Bach, treten als Zeitzeugen auf und berichten von den abscheulichen Arbeitsbedingungen oder davon, wie der Streik mit Gewalt durch Werkschutz, Polizei in Zivil und durch mit Knüppeln bewaffnete Streikbrecher aus Belgien niedergeschlagen wurde. Auch die Schauspielerin Mischi Steinbrück, die damals am Werktor Getränke verteilte, berichtet von ihren Erlebnissen. Trotzdem sind die meisten Charaktere in Baha und die wilden Siebziger fiktiv und viele Ereignisse sind erfunden.
Reiner Schmidtke ist Bahas Kumpel. Am Anfang lernen wir ihn als überzeugten Maoisten kennen. Lucy Buljevic lebt in einer Künstlerkommune und verliebt sich in Baha. Je nach Perspektive ist es umgekehrt. Emine Orhanoğlu, die eigentlich Zelâl heißt und sich nicht so nennen darf, weil dies ein kurdischer Name ist, arbeitet bei der Autozuliefererfirma Pierburg in Neuss. Muhittin Fıratoğlu und İsmail Erşahin arbeiten bei Ford und wohnen im werkeigenen Arbeiterheim in Köln-Niehl zusammen. Muhittins Frau und Kinder leben in der Türkei, İsmail ist Single.
Auch Baha ist ein Revoluzzer, allerdings sieht er die Dinge etwas lockerer als seine deutschen Genossen. Lucy kann mit Ideologien überhaupt nichts anfangen. Für sie gilt das Prinzip „Make love, not war“. Dennoch unterstützt das frisch verliebte Paar eine Stadtteilinitiative in Köln-Nippes, die sich gegen einen Immobilienhai richtet, der es auf migrantische Familien abgesehen hat. Dort begegnen die beiden Emine, die Verwandte besucht. Emine und ihre Kolleginnen haben gerade erfolgreich gleichen Lohn für gleiche Arbeit bei Pierburg erkämpft. Kurz danach fängt Baha bei Ford an zu arbeiten. Er hatte seinen Job als Dolmetscher bei der Dresdner Bank verloren, als er dabei erwischt wurde, wie er von einem Kunden Spenden für die Initiative in Nippes sammelte.
„Es wurde diskutiert, abgestimmt, gesungen, musiziert, gebetet, getanzt, gemeinsam gegessen, organisiert, einem Erzähler türkischer Märchen zugehört.“
Wenige Tage später legen Tausende Ford-Arbeiter spontan die Arbeit nieder. Baha wird zum Streiksprecher gewählt. Baha, Reiner und die anderen formulieren die Forderungen. An erster Stelle steht: „Eine Mark mehr für alle!“ Es handelt sich jedoch nicht um einen üblichen Streik: morgens streiken, zum Streiklokal gehen, Mettbrötchen und Kartoffelsalat essen und wieder nach Hause gehen. Am nächsten Tag wieder streiken. Nein, hier wird der Betrieb besetzt und nachts im Polsterlager wird „diskutiert, abgestimmt, gesungen, musiziert, gebetet, getanzt, gemeinsam gegessen, organisiert und einem Erzähler türkischer Märchen zugehört.“
Monate vergehen. Baha sammelt erneut Spenden, dieses Mal für die Revolution in der Türkei. Von seinen ehemaligen Kollegen, die nach dem gescheiterten Streik bei Ford entlassen wurden und ums Überleben kämpfen müssen, erhält er jedoch kaum Unterstützung. İsmail jobbt nun bei einer Baufirma. Muhittin hat eine Änderungsschneiderei und hat inzwischen seine Familie nach Deutschland geholt. Baha kämpft verbissener denn je für eine aus seiner Sicht bessere Welt. Dabei vernachlässigt er die Beziehung zu Lucy, die schließlich die Nase voll hat und ihn verlässt. Bei seinem Versuch, Geld für die „gerechte Sache” zu sammeln, gerät er mit einem türkischen Unternehmer in eine ungünstige Lage. Der repressive Richter Viktor des Somoskeoy nutzt dies aus, um Baha zu einer Gefängnisstrafe zu verurteilen. Im Gefängnis besuchen ihn sein Freund Reiner und Emine, die jetzt Gewerkschafterin geworden ist. Beide versuchen vergeblich, ihn davon zu überzeugen, dass er nicht alleine ist. Nach seiner Entlassung vier Jahre später, wird Bahas Asylantrag abgelehnt. Er kehrt in die Türkei zurück. Alle anderen finden sich mehr oder weniger zurecht in Deutschland.