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Ford Streik Köln 1973 mit Heinrich Pachl und Klaus der Geige. Foto: Gernot Huber

Baha und die wilden 70er
Musiktheater

Mit „Baha und die wilden Siebziger“ trägt das SANAT ENSEMBLE ein heute kaum noch bekanntes Kapitel deutscher Geschichte auf die Theaterbühne.

Während in den USA die Disco entstand und ABBA mit „Waterloo“ den ESC in Europa gewann, legten 1973 in Deutschland über hunderttausend Gastarbeiter in über dreihundert Orten „wild“ die Arbeit nieder. „Wild“ bedeutete hier nicht „verrückt“, sondern „illegal“. Die einst unterwürfigen Türken, Griechen, Italiener und andere, die dankbar jede Drecksarbeit annahmen, waren nicht wiederzuerkennen. Plötzlich wurden sie zu Frankensteinen des Wirtschaftswunders, die ohne Scheu gleichen Lohn für gleiche Arbeit unter menschenwürdigen Bedingungen forderten – übrigens mit Frauen an der Spitze.

„Übernehmen die Gastarbeiter die Macht?“
Bild Zeitung, 29.08.1973

Der Streik bei Ford in Köln war der größte. Zwölftausend Arbeiter, überwiegend aus der Türkei, besetzten fünf Tage und Nächte lang das Werk. Sie trotzten mehrsprachigen Durchsagen in den Kölner Straßenbahnen, dem Appell von Bundeskanzler Willy Brandt an die Vernunft und türkischen Diplomaten vor den Werkstoren, die die Belegschaft zum Abbruch des Streiks aufforderten. Am schlimmsten war die Hetzkampagne in den Medien. Am Ende des Tages stellte das Allensbacher Institut im Oktober 1973 fest, dass nur acht Prozent der Bevölkerung den Namen des Ford-Streiksprechers nicht kannte: Baha Targün.

Burçin Keskin, Schauspielerin. Foto: Günay Ulutunçok, 2024
Burçin Keskin, Schauspielerin. Foto: Günay Ulutunçok, 2024

„Bahas rhetorische Brillanz wie seine jugendliche Ausstrahlung, die an Che Guevara, Jesus oder die typischen 68er-Revolutionäre erinnerte, sind untrennbar mit der Faszination des Ford-Streiks verbunden.“

— Witich Roßmann, DGB Köln

Baha sprach Deutsch, hatte Charisma und konnte überzeugend auftreten. Er führte die Gespräche mit dem Betriebsrat, der sich übrigens ganz klar gegen den „wilden“ Streik stellte. Er gab Presseerklärungen ab, überzeugte die Belegschaft Tag für Tag von der Notwendigkeit des Kampfes und stimmte mit ein, wenn gemeinsam gesungen wurde. Dass der Streik am fünften Tag mit Hilfe von aus Belgien angeheuerten und mit Knüppeln bewaffneten Streikbrechern, Werkschutz, Betriebsleitern und Zivilpolizisten brutal niedergeschlagen wurde, führen einige Streikende darauf zurück, dass Baha Targüns legendäres Megafon zerstört wurde und seine heiser gewordene Stimme nicht mehr zu hören war.

Zwei Jahre nach dem Ford-Streik wurde Baha Targün wegen angeblicher „räuberischer Erpressung“ und „gefährlicher Körperverletzung“ eines türkischen Geschäftsmannes angeklagt und vom Richter Victor Henry de Somoskeoy zu sechs Jahren Haft verurteilt. Lokale Juristen und Journalisten des Kölner Stadt-Anzeigers äußerten erhebliche Zweifel an der Anklage und an dem Urteil. Steckte Rache dahinter? Ein Jahr zuvor hatte derselbe Richter Beate Klarsfeld, die Jägerin hochrangiger NS-Funktionäre und Entdeckerin von Kiesingers Nazivergangenheit, zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt.

Die fünf Jahre, die Baha in den Gefängnissen von Köln-Ossendorf und Remscheid verbrachte, gehören ebenfalls zur Story von „Baha und die wilden Siebziger“.

Aydın Işık, Schauspieler. Foto: Günay Ulutunçok, 2024
Aydın Işık, Schauspieler. Foto: Günay Ulutunçok, 2024
Baha Targün, Ford Streik Köln, 1973. Foto: Gernot Huber (Mehr in der Fotogalerie)
Baha Targün, Ford Streik Köln, 1973. Foto: Gernot Huber (Mehr in der Fotogalerie)

Baha Targün war einst der Cohn-Bendit der Türkeistämmigen. Doch er und die vielen anderen Protagonisten der Streikwelle von 1973 sind in Vergessenheit geraten. Denn die offizielle Geschichtsschreibung endet mit der Niederschlagung des Streiks. Es heißt: Kurz darauf führte man den Anwerbestopp ein. Man hätte aber ergänzen können: So erkämpften sich die Gastarbeiter ihr Recht auf Würde. Max Frisch sagte einst: Arbeitskräfte wurden gerufen, Menschen kamen. Jetzt ist es an der Zeit zu erkennen, dass diese Menschen nicht nur zum Wirtschaftswunder beitragen, sondern auch Teil der deutschen Demokratiegeschichte sind.

„Baha und die wilden Siebziger“ basiert auf mündlichen und schriftlichen Erinnerungen. Für die Recherche befragten wir Bahas Familienmitglieder und interviewten seine Freunde, darunter viele Deutsche. Zwei Rentner, die damals bei Ford mitstreikten, spielen in der Inszenierung mit. Man könnte fast von dokumentarischem Theater sprechen. Doch das Regieteam wünscht sich eine Rockoper à la Jesus Christ Superstar oder wie der Musikfilm Tommy von The Who. Rock‘n‘Roll pur waren jedenfalls die legendären Nächte in Fords Polsterlager.

Ford-Streik in Köln 1973 Nachts. Foto: Gernot Huber
Ford-Streik in Köln 1973 Nachts. Foto: Gernot Huber

„Es wurde diskutiert, abgestimmt, gesungen, musiziert, gebetet, getanzt, gemeinsam gegessen, organisiert, einem Erzähler türkischer Märchen zugehört.“

— Ein Deutscher über die Nächte im Polsterlager des Ford-Werkes,
wo Tausende von Streikenden Ende August 1973 übernachteten.

Den musikalischen Rahmen des Musiktheaters bilden eigens hierfür geschriebene Songs. Hauptkomponist Nedim Hazar, Sänger und Komponist der deutsch-türkischen Kultband Yarinistan aus den 80er Jahren, lässt den unverwechselbaren Sound seiner ehemaligen Band hier wieder aufleben. Dabei ist auch Platz für türkische Evergreens wie „Aldırma Gönül“, ein Empowerment-Song für Gefangene des türkischen Schriftstellers Sabahattin Ali. Ali war übrigens Dramaturg des berühmten Intendanten Carl Ebert, der seinerzeit aus Nazi-Deutschland floh und das Staatstheater in Ankara gründete.

Einflüsse von Janis Joplin, Ton Steine Scherben und Barış Manço treffen hier auf modernen Rap. Live gespielt wird die Musik von einer Rockband, bei der allerdings zwei Celli im Vordergrund stehen. Sowohl anatolische Tänze als auch „Freedom’s just another word for nothing left to lose“ klingen hier anders. Glaubt man dem Kölner Journalisten Felix Kopotek, hätte der Song von Janis Joplin durchaus zum Repertoire des Ford-Streiks gehören können. „Tanz auf dem Rücken des Tigers“ heißt sein Artikel in der Kölner Stadt Revue, der die Gefühlslage der Streikenden treffend beschreibt: „Diese Explosion der Befreiung, das Aufatmen - wenn das Schule machen würde, wenn der Funke überspringen würde! Nicht auszudenken.“

Sanat Ensemble Tanz. Foto: Günay Ulutunçok
Sanat Ensemble, 2024. Foto: Günay Ulutunçok